Verfahrensinformation



Die beklagte Bundesrepublik Deutschland wendet sich in sämtlichen Verfahren im Wege der Sprungrevision gegen die Verpflichtung festzustellen, dass in Bezug auf die jeweiligen Kläger ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegt. Das Verwaltungsgericht hat in den insoweit angegriffenen Urteilen jeweils entschieden, die Kläger erfüllten die Voraussetzungen eines nationalen, unionsrechtlich gebotenen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK, welches dem Ergehen einer Abschiebungsandrohung und eines Einreise- und Aufenthaltsverbots entgegenstehe. Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a und b RL 2008/115/EG gebiete es, das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen in allen Stadien des zu einer Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens und damit auch bereits vor Erlass der Rückkehrentscheidung während des zu der Abschiebungsandrohung führenden Asylverfahrens zu berücksichtigen. Die Kläger lebten jeweils mit ihren stammberechtigten Angehörigen in einer nach Art. 6 GG und Art. 8 ERMK schützenswerten familiären Lebensgemeinschaft. Die bloße Aufhebung der gegenüber ihnen ergangenen Abschiebungsandrohungen und die Duldung ihres weiteren Aufenthalts im Bundesgebiet würden den unionsrechtlichen Anforderungen der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger nicht gerecht.


Das Bundesverwaltungsgericht wird zu klären haben, ob ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen ist, weil einer Abschiebung das Wohl des Kindes oder die familiären Bindungen im Sinne von Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115/EG entgegenstehen.


Pressemitteilung Nr. 38/2025 vom 22.05.2025

Kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG wegen inlandsbezogener Belange im Sinne des Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a und b RL 2008/115/EG

Das Wohl eines Kindes und die familiären Bindungen im Sinne von Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115/EG vermögen als inlandsbezogene Aspekte die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG nicht zu begründen. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden.


Die Kläger sind Ausländer mit familiären Bindungen in Deutschland. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte ihre Asylanträge ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen, drohte ihnen die Abschiebung an und verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbote. Das Verwaltungsgericht hat die beklagte Bundesrepublik in allen Verfahren verpflichtet festzustellen, dass für die jeweiligen Kläger ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegt. Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a und b RL 2008/115/EG gebiete es, das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen in allen Stadien des zu einer Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens und damit auch bereits vor Erlass der Rückkehrentscheidung während des zu der Abschiebungsandrohung führenden Asylverfahrens zu berücksichtigen.


Der 1. Revisionssenat des Bundesverwaltungsgerichts hat den gegen die angegriffenen Urteile des Verwaltungsgerichts eingelegten Sprungrevisionen der Beklagten stattgegeben. § 60 Abs. 5 AufenthG verweist auf die Europäische Menschenrechtskonvention lediglich insoweit, als sich aus ihr Abschiebungsverbote ergeben, die in Gefahren begründet liegen, welche dem Ausländer im Zielland der Abschiebung drohen. Belange im Sinne des Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a und b RL 2008/115/EG, die im Rückführungsverfahren zu berücksichtigen sind, weil anderenfalls ein geschütztes Rechtsgut im Inland verletzt würde, werden von der Verweisung in § 60 Abs. 5 AufenthG nicht erfasst. Ihnen ist - wie in § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG und § 59 Abs. 1 AufenthG vorgesehen - in dem von der Richtlinie 2008/115/EG allein erfassten Rückkehrverfahren Rechnung zu tragen.


Da das Bundesverwaltungsgericht als Revisionsgericht in Ermangelung tatsächlicher Feststellungen des Verwaltungsgerichts zu zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten an der Beurteilung gehindert ist, ob die Kläger alsbald nach ihrer Rückkehr in ihre Herkunftsländer in eine § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zuwiderlaufende Lage gerieten oder sie dort einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausgesetzt wären, hat es die angefochtenen Urteile insoweit aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.


BVerwG 1 C 4.24 - Urteil vom 22. Mai 2025

Vorinstanz:

VG Gelsenkirchen, VG 9a K 1073/21.A - Urteil vom 09. April 2024 -

BVerwG 1 C 20.23 - Urteil vom 22. Mai 2025

Vorinstanz:

VG Gelsenkirchen, VG 9a K 3404/20.A - Urteil vom 17. Oktober 2023 -

BVerwG 1 C 9.24 - Urteil vom 22. Mai 2025

Vorinstanz:

VG Gelsenkirchen, VG 9a K 3184/22.A - Urteil vom 03. Mai 2024 -

BVerwG 1 C 10.24 - Urteil vom 22. Mai 2025

Vorinstanz:

VG Gelsenkirchen, VG 9a K 3865/22.A - Urteil vom 03. Mai 2024 -

BVerwG 1 C 11.24 - Urteil vom 22. Mai 2025

Vorinstanz:

VG Gelsenkirchen, VG 9a K 2724/22.A - Urteil vom 17. Mai 2024 -

BVerwG 1 C 14.24 - Urteil vom 22. Mai 2025

Vorinstanz:

VG Gelsenkirchen, VG 12a K 1855/22.A - Urteil vom 14. Mai 2024 -

BVerwG 1 C 2.25 - Urteil vom 22. Mai 2025

Vorinstanz:

VG Gelsenkirchen, VG 9a K 54/24.A - Urteil vom 22. November 2024 -

BVerwG 1 C 5.25 - Urteil vom 22. Mai 2025

Vorinstanz:

VG Gelsenkirchen, VG 9a K 772/23.A - Urteil vom 03. Dezember 2024 -

BVerwG 1 C 10.25 - Urteil vom 22. Mai 2025

Vorinstanz:

VG Gelsenkirchen, VG 9a K 3023/23.A - Urteil vom 16. Dezember 2024 -

BVerwG 1 C 14.25 - Urteil vom 22. Mai 2025

Vorinstanz:

VG Gelsenkirchen, VG 9a K 3999/24.A - Urteil vom 21. Januar 2025 -

BVerwG 1 C 12.24 - Urteil vom 22. Mai 2025

Vorinstanz:

VG Gelsenkirchen, VG 9a K 4069/21.A - Urteil vom 11. Juni 2024 -


Urteil vom 22.05.2025 -
BVerwG 1 C 4.24ECLI:DE:BVerwG:2025:220525U1C4.24.0

Kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG wegen inlandsbezogener Belange im Sinne des Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a und b RL 2008/115/EG

Leitsatz:

Inlandsbezogene Belange, so auch das Wohl des Kindes oder familiäre Bindungen im Sinne von Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a und b RL 2008/115/EG, ermöglichen nicht die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG. Sie sind im Einklang mit § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG und § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG allein in dem von der Richtlinie 2008/115/EG geregelten Rückkehrverfahren und damit bereits im Rahmen der Abschiebungsandrohung zu berücksichtigen.

  • Rechtsquellen
    AufenthG § 10 Abs. 3 Satz 2, § 25 Abs. 5, § 59 Abs. 1, § 60 Abs. 5, § 72 Abs. 2
    AuslG 1990 § 53 Abs. 4
    RL 2008/115/EG Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a und b
    EMRK Art. 8
    AsylG § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4, § 73 Abs. 7 Satz 1

  • VG Gelsenkirchen - 09.04.2024 - AZ: 9a K 1073/21.A

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Urteil vom 22.05.2025 - 1 C 4.24 - [ECLI:DE:BVerwG:2025:220525U1C4.24.0]

Urteil

BVerwG 1 C 4.24

  • VG Gelsenkirchen - 09.04.2024 - AZ: 9a K 1073/21.A

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 22. Mai 2025 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Keller und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Fleuß, Dollinger und Böhmann sowie die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wittkopp für Recht erkannt:

  1. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 9. April 2024 wird aufgehoben, soweit es Nummer 4 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 25. Februar 2021 und Nummer 4 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 13. Februar 2023 aufhebt und die Beklagte verpflichtet festzustellen, dass für die Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG besteht.
  2. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen zurückverwiesen.
  3. Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe

I

1 Die Kläger begehren die Berücksichtigung inlandsbezogener Belange im Sinne des Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a und b RL 2008/115/EG im Rahmen der Feststellung der Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG.

2 Die Kläger sind minderjährige Drittstaatsangehörige mit familiären Bindungen in Deutschland. Mit den angegriffenen Bescheiden lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) ihre Asylanträge ab (Nummer 1 bis 3), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nummer 4), drohte ihnen die Abschiebung an (Nummer 5) und befristete das seinerzeitige gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot (Nummer 6).

3 Im Rahmen der gegen diese Bescheide betriebenen Klageverfahren haben die Kläger ihre Klagen, soweit sie die Nummern 1 bis 3 betreffen, zurückgenommen. Das Verwaltungsgericht hat das Verfahren im Umfang der Teilklagerücknahme eingestellt, die Bescheide des Bundesamtes jeweils hinsichtlich der Nummern 4 bis 6 aufgehoben sowie die Beklagte verpflichtet festzustellen, dass für die Kläger ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegt. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Kläger erfüllten die Voraussetzungen eines nationalen, unionsrechtlich gebotenen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 8 EMRK, das dem Ergehen einer Abschiebungsandrohung und eines Einreise- und Aufenthaltsverbots entgegenstehe. Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a und b RL 2008/115/EG gebiete es, das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen in allen Stadien des zu einer Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens und damit auch bereits vor Erlass der Rückkehrentscheidung während des zu der Abschiebungsandrohung führenden Asylverfahrens zu berücksichtigen. Das Bundesamt habe eine umfassende und eingehende Beurteilung der familiären Situation des Betroffenen vorzunehmen. Ergebe die Würdigung der familiären Bindungen nach dem Maßstab des Art. 5 Halbs. 1 Buchst. b RL 2008/115/EG, dass eine Abschiebung der Betroffenen dem Schutz der familiären Bindungen widerspreche, sei das Bundesamt verpflichtet festzustellen, dass für die Betroffenen ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG bestehe. So verhalte es sich in den streitgegenständlichen Verfahren. Die bloße Aufhebung der Abschiebungsandrohungen und die Duldung des weiteren Aufenthalts im Bundesgebiet würden den unionsrechtlichen Anforderungen nach Art. 5 Halbs. 1 Buchst. b und Art. 8 RL 2008/115/EG nicht gerecht.

4 Zur Begründung ihrer auf die Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG beschränkten Sprungrevision führt die Beklagte aus, das angegriffene Urteil verstoße gegen § 34 AsylG und § 60 Abs. 5 AufenthG. Inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse nach Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a und b RL 2008/115/EG könnten die Feststellung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG nicht begründen.

5 Die Kläger verteidigen die angegriffene Entscheidung des Verwaltungsgerichts.

II

6 Die Sprungrevision der Beklagten ist zulässig und begründet. Das angefochtene Urteil verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), soweit es die jeweilige Nummer 4 der angegriffenen Bescheide des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge aufhebt und die Beklagte verpflichtet festzustellen, dass für die Kläger ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegt (1.). Mangels hinreichender tatsächlicher Feststellungen kann der Senat das angefochtene Urteil weder aus anderen Gründen bestätigen (§ 144 Abs. 4 VwGO) noch im Sinne von § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO selbst über das Vorliegen der Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG entscheiden (2.); dies nötigt nach § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO zur Zurückverweisung (3.).

7 1. Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. § 60 Abs. 5 AufenthG stellt als Rechtsgrundverweisung klar, dass die aus der Europäischen Menschenrechtskonvention resultierenden völkerrechtlichen Verpflichtungen auch dann und insoweit über den räumlichen Geltungsbereich der Konvention hinaus zu beachten sind, wenn ein Ausländer in einen außerhalb des Konventionsgebiets liegenden Drittstaat abgeschoben werden soll (vgl. BT-Drs. 11/6321 S. 75; BVerwG, Urteile vom 17. Oktober 1995 - 9 C 15.95 - BVerwGE 99, 331 <333> und vom 24. Mai 2000 - 9 C 34.99 - BVerwGE 111, 223 <226>).

8 Das Verwaltungsgericht hat durch die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 8 EMRK gegen Bundesrecht im Sinne von § 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO verstoßen. Zwar obliegt dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Zuge der Entscheidung sowohl über zulässige als auch über unzulässige Asylanträge gemäß § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG die ausdrückliche Feststellung, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegen, sofern nicht § 31 Abs. 3 Satz 2 und 3 AsylG ein Absehen von dieser Feststellung ermöglicht. § 60 Abs. 5 AufenthG verweist indes lediglich insoweit auf die Europäische Menschenrechtskonvention, als sich aus ihr Abschiebungsverbote ergeben, die in Gefahren begründet liegen, welche dem Ausländer im Zielland der Abschiebung drohen (sog. zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote, vgl. bereits BVerwG, Urteil vom 11. November 1997 - 9 C 13.96 - BVerwGE 105, 322 <324>). Inlandsbezogene Belange, so auch das Wohl des Kindes oder familiäre Bindungen im Sinne von Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (im Folgenden: RL 2008/115/EG), ermöglichen nicht die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG. Sie sind im Einklang mit § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG und § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG allein in dem von der Richtlinie geregelten Rückkehrverfahren zu berücksichtigen. Der gegenteilige Rechtsstandpunkt des Verwaltungsgerichts steht mit nationalem Recht nicht im Einklang (a). Unionsrecht bietet keine Veranlassung zu einer abweichenden Beurteilung (b).

9 a) Das Bundesverwaltungsgericht hält an seiner zu § 53 Abs. 4 des Gesetzes über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern im Bundesgebiet (Ausländergesetz - AuslG) vom 9. Juli 1990 entwickelten (BVerwG, Urteile vom 11. November 1997 - 9 C 13.96 - BVerwGE 105, 322 <324 - 326> und - 9 C 54.96 - BeckRS 1997, 31239784) und zu der wortgleichen Bestimmung des § 60 Abs. 5 AufenthG fortgeführten Rechtsprechung (BVerwG, Urteile vom 27. Juni 2006 - 1 C 14.05 - BVerwGE 126, 192 Rn. 17, vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 - BVerwGE 146, 12 Rn. 35 f., vom 13. Juni 2013 - 10 C 13.12 - BVerwGE 147, 8 Rn. 24, vom 27. Mai 2021 - 1 C 6.20 - BVerwGE 172, 356 Rn. 16 und vom 21. April 2022 - 1 C 10.21 - BVerwGE 175, 227 Rn. 20) fest.

10 aa) Der Wortlaut des § 60 Abs. 5 AufenthG verweist auf diejenigen Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention, aus deren Anwendung sich ergibt, dass die Abschiebung des betreffenden Ausländers unzulässig ist, ohne sich dazu zu verhalten, ob das Verbot der Abschiebung in einer dem Ausländer im Zielland seiner Rückführung drohenden Gefahr oder in einer im Inland zu gewärtigenden Rechtsgutverletzung gründet.

11 bb) Die historisch-genetische Auslegung des § 60 Abs. 5 AufenthG spricht für eine Verweisung ausschließlich auf zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote.

12 In der Begründung ihres Entwurfs eines Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) brachte die Bundesregierung deutlich zum Ausdruck, dass § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG inhaltlich der Vorgängerregelung des § 53 AuslG entsprechen solle (BT-Drs. 15/420 S. 91).

13 Gemäß § 53 Abs. 4 AuslG durfte ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Mit § 53 AuslG verfolgte der Gesetzgeber das Ziel, die "sog. materiellen Abschiebungshindernisse, nämlich die im Ausland drohende individuell-konkrete Gefahr der Folter, der Todesstrafe und einer sonstigen Gefahr für Leib, Leben und Freiheit, [...] gesetzlich [zu] regel[n]" (BT-Drs. 11/6321 S. 49; in diesem Sinne auch bereits BVerwG, Urteil vom 11. November 1997 - 9 C 13.96 - BVerwGE 105, 322 <325> m. w. N.). Diese Zielsetzung bildete sich in der Binnensystematik des § 53 AuslG ab. Wie § 53 Abs. 4 AuslG waren auch die übrigen in § 53 AuslG geregelten Abschiebungshindernisse durch ihre ausschließliche Zielstaatsbezogenheit geprägt (BVerwG, Urteil vom 11. November 1997 - 9 C 13.96 - BVerwGE 105, 322 <324 ff.>).

14 An diesem Verständnis des § 53 AuslG hat der Gesetzgeber auch unter der Geltung des § 60 AufenthG stets festgehalten. Hinweise darauf, dass er insbesondere den Anwendungsbereich des § 60 Abs. 5 AufenthG auf inlandsbezogene Abschiebungshindernisse erweitert wissen wollte, finden sich nicht. Insbesondere die Neufassung der asyl- und unionsrechtlichen Abschiebungsverbote durch das Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU vom 28. August 2013 (BGBl. I S. 3474) gab ihm keine Veranlassung, § 60 Abs. 5 AufenthG zu ändern.

15 cc) Die Gesetzessystematik unterstreicht den historisch-genetischen Befund.

16 (1) § 60 Abs. 1 bis 4, 6 und 7 AufenthG regelt jeweils Fallgestaltungen, in denen der Ausländer Gefahren zu gewärtigen hat, die in dem betreffenden Zielland der Abschiebung drohen. Der Umstand, dass in § 60 Abs. 1 bis 4, 6 und 7 AufenthG jeweils ausdrücklich auf den Zielstaat der Abschiebung abgehoben wird, während eine solche Bezugnahme in § 60 Abs. 5 AufenthG unterbleibt, rechtfertigt nicht den Schluss, dass der Gesetzgeber von dieser Norm auch inlandsbezogene Abschiebungshindernisse erfasst wissen wollte (so jedoch Milstein/​Schwan, in: Zeitler <Hrsg.>, HTK-AuslR, Stand 27. März 2024, § 60 Abs. 5 AufenthG Rn. 43).

17 (2) Eine ausdrückliche Bestätigung erfährt dieser Befund durch § 72 Abs. 2 AufenthG und § 73 Abs. 7 Satz 1 AsylG sowie durch § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG.

18 Gemäß § 72 Abs. 2 AufenthG entscheidet die Ausländerbehörde unter anderem "über das Vorliegen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG" nur nach vorheriger Beteiligung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Nach der Begründung des Gesetzentwurfs zu der Neufassung des § 72 Abs. 2 AufenthG soll damit die bestehende Pflicht der Ausländerbehörden, bei Entscheidungen über das Vorliegen zielstaatsbezogener Abschiebungshindernisse gemäß dem bisher geltenden § 60 Abs. 7 AufenthG eine Stellungnahme des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge einzuholen, auf alle Fälle der "zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 5 oder 7" AufenthG ausgedehnt werden (BT-Drs. 16/5065 S. 190). Dies weist eindeutig darauf hin, dass der Gesetzgeber in allen genannten Fällen von einem Zielstaatsbezug ausgeht. Dass der Gesetzgeber keine Veranlassung gesehen hat, den Zielstaatsbezug auch in § 60 Abs. 5 AufenthG in entsprechender Weise zum Ausdruck zu bringen, rechtfertigt daher nicht den Schluss, dass dieser auch inlandsbezogene Abschiebungshindernisse erfasst (in diesem Sinne jedoch Milstein/​Schwan, in: Zeitler <Hrsg.>, HTK-AuslR, Stand 27. März 2024, § 60 Abs. 5 AufenthG Rn. 43). Wie § 72 Abs. 2 AufenthG weist auch § 73 Abs. 7 Satz 1 AsylG, dem zufolge für den Fall, dass der Ausländer in den Staat reist, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, oder, wenn er staatenlos ist, in den Staat, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, vermutet wird, dass die Voraussetzungen unter anderem für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG nicht mehr vorliegen, auf die ausschließliche Zielstaatsbezogenheit des § 60 Abs. 5 AufenthG. In der Begründung des Entwurfs des § 73 Abs. 7 AsylG qualifiziert der federführende Ausschuss des Deutschen Bundestages für Inneres und Heimat den Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG ausdrücklich als "zielstaatsbezogen" (BT-Drs. 20/13413 S. 52).

19 Zudem hat der Gesetzgeber zwecks Umsetzung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu Art. 5 RL 2008/115/EG (vgl. nur EuGH, Urteile vom 14. Januar 2021 - C-441/19 [ECLI:​​EU:​​C:​​2021:​​9] - und vom 22. November 2022 - C-69/21 [ECLI:​​EU:​​C:​​2022:​​913] - sowie Beschluss vom 15. Februar 2023 - C-484/22 [ECLI:​​EU:​​C:​​2023:​​122] -) zwischenzeitlich § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG eingefügt (dazu BT-Drs. 20/9463 S. 44 f. und 58). Danach setzt der Erlass einer Abschiebungsandrohung nach den §§ 59 und 60 Abs. 10 AufenthG auch voraus, dass der Abschiebung weder das Kindeswohl noch familiäre Bindungen noch der Gesundheitszustand des Ausländers entgegenstehen. Unverändert dürfen überdies die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vorliegen, sofern die Abschiebung nicht ungeachtet des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise zulässig ist (§ 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG). In vergleichbarer Weise wurde auch § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG neu gefasst. Nach dieser aufenthaltsrechtlichen Regelung ist die Abschiebung unter Bestimmung einer angemessenen Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise anzudrohen, wenn keine Abschiebungsverbote vorliegen und der Abschiebung weder das Kindeswohl noch familiäre Bindungen noch der Gesundheitszustand des Ausländers entgegenstehen (vgl. hierzu auch BT-Drs. 20/9463 S. 22). Wären die nun zusätzlich benannten inlandsbezogenen Belange bereits im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG zu berücksichtigen, so hätte es dieser Ergänzungen nicht bedurft.

20 dd) Die teleologische Auslegung des § 60 Abs. 5 AufenthG und des § 53 Abs. 4 AuslG bekräftigt das vorstehende Normverständnis.

21 Beide Normen betonen die völkerrechtliche Bindung der Bundesrepublik Deutschland an die Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention. Diesen Gewährleistungen wurde durch die deklaratorische Verweisung auf die Konvention bewusst Rechnung getragen; hiermit wurde zugleich die Beachtung der unmittelbar aus dieser folgenden völkerrechtlichen Abschiebungsverbote anerkannt und angeordnet (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Mai 2000 - 9 C 34.99 - BVerwGE 111, 223 <226>), ohne indes von dem Erfordernis der Zielstaatsbezogenheit dieser Abschiebungsverbote abzurücken.

22 Soweit in Teilen des Schrifttums zu bedenken gegeben wird, dass der Gesetzgeber bei der Einführung der Vorläufervorschrift des § 53 Abs. 4 AuslG zwar in erster Linie das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 7. Juli 1989 in der Sache Soering/​Vereinigtes Königreich - Nr. 14938/88 - (EGMR-E 4, 376) vor Augen gehabt habe, jedoch für die weitere Rechtsprechungsentwicklung des Gerichtshofs, insbesondere zum Schutz des Privat- und Familienlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK, offen sein müsse und diese ein auf inlandsbezogene Abschiebungshindernisse erweitertes Verständnis von § 60 Abs. 5 AufenthG und die Aufgabe der Unterscheidung zwischen zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten und inlandsbezogenen Abschiebungshindernissen verlange (vgl. Endres de Oliveira/​Hruschka/​Mantel, in: Huber/​Mantel, AufenthG/AsylG, 4. Aufl. 2025, § 60 AufenthG Rn. 33; Michalke, Asylmagazin 2024, 173 <179 f.>; Müller, Asylmagazin 2009, 4 <5>), kann dem nicht gefolgt werden. Eine entsprechende Verpflichtung lässt sich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht entnehmen. Zwar gebietet es der Schutz des Privat- und Familienlebens im Kontext von Auslieferung, Ausweisung und Abschiebung, einen gerechten Ausgleich zwischen dem Individualinteresse des Betroffenen und dem Interesse des Konventionsstaats herbeizuführen (EGMR, Urteil vom 14. September 2017 - Nr. 41215/14 - Rn. 76); hierbei spricht der Gerichtshof den Konventionsstaaten jedoch einen weiten Beurteilungsspielraum zu (EGMR, Urteil vom 24. April 2018 - Nr. 4587/09 - Rn. 36). So kann gerade auch die bloße Duldung des Aufenthalts des vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländers genügen, um eine Verletzung von Art. 8 Abs. 1 EMRK abzuwenden (EGMR, Urteil vom 1. März 2018 - Nr. 58681/12 - Rn. 61).

23 b) Das vorstehende Ergebnis der Auslegung von § 60 Abs. 5 AufenthG steht auch im Einklang mit Unionsrecht. Ihm widerstreitet insbesondere nicht Art. 5 RL 2008/115/EG.

24 aa) Art. 5 RL 2008/115/EG verpflichtet die zuständigen nationalen Behörden der Mitgliedstaaten, bei der Umsetzung dieser Richtlinie in jedem Stadium des Verfahrens in gebührender Weise a) das Wohl des Kindes, b) die familiären Bindungen und c) den Gesundheitszustand der betreffenden Drittstaatsangehörigen zu berücksichtigen und zudem den Grundsatz der Nichtzurückweisung, der als Grundrecht in Art. 18 GRC i. V. m. Art. 33 GFK sowie in Art. 19 Abs. 2 GRC gewährleistet ist, einzuhalten. Art. 5 RL 2008/115/EG verwehrt es den Mitgliedstaaten, eine Rückkehrentscheidung gegen den Drittstaatsangehörigen zu erlassen,
(1) ohne eine umfassende und eingehende Beurteilung der Situation des Minderjährigen vorzunehmen und dabei das Wohl des Kindes, insbesondere das Alter, das Geschlecht, die besondere Schutzbedürftigkeit, den physischen und psychischen Gesundheitszustand, die Unterbringung im Zielland, das Schulbildungsniveau und das soziale Umfeld des Minderjährigen gebührend zu berücksichtigen und eine Entscheidung zu treffen, die den Anforderungen des individuellen Kindeswohls entspricht (EuGH, Urteile vom 14. Januar 2021 - C-441/19 - Rn. 44 ff. und 54 ff. und vom 11. März 2021 - C-112/20 [ECLI:​​EU:​​C:​​2021:​​197] - Rn. 31 ff. sowie Beschluss vom 15. Februar 2023 - C-484/22 - Rn. 24 ff.),
(2) ohne die relevanten Aspekte des Familienlebens des betreffenden Drittstaatsangehörigen zu berücksichtigen, die dieser geltend macht, um den Erlass einer solchen Entscheidung zu verhindern (EuGH, Urteil vom 8. Mai 2018 - C-82/16 [ECLI:​​EU:​​C:​​2018:​​308] - Rn. 60),
(3) in der als Zielland ein Land angegeben wird, in dem der Drittstaatsangehörige im Falle seiner Abschiebung der ernsthaften Gefahr einer schweren und irreversiblen Verschlechterung seines Gesundheitszustands ausgesetzt wäre (EuGH, Urteile vom 18. Dezember 2014 - C-562/13 [ECLI:​​EU:​​C:​​2014:​​2453] - Rn. 49 ff. und vom 22. November 2022 - C-69/21 - Rn. 66 ff.), oder
(4) in der als Zielland ein Land angegeben wird, hinsichtlich dessen feststeht, dass die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen in dieses Land nach dem Grundsatz der Nichtzurückweisung auf unbestimmte Zeit ausgeschlossen ist, weil ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme bestehen, dass der Drittstaatsangehörige im Fall der Vollstreckung der Entscheidung der tatsächlichen Gefahr einer gegen Art. 18 oder Art. 19 Abs. 2 GRC verstoßenden Behandlung ausgesetzt wäre (EuGH, Urteil vom 6. Juli 2023 - C-663/21 [ECLI:​​EU:​​C:​​2023:​​540] - Rn. 49 f. und 52).

25 Diese der Wahrung der Grundrechte zu dienen bestimmten Vorgaben sind in jedem Stadium des Rückkehrverfahrens einzuhalten (EuGH, Urteil vom 6. Juli 2023 - C-663/21 - Rn. 49).

26 bb) Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a und b RL 2008/115/EG gebietet mithin, das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen des Ausländers im Rahmen eines zum Erlass einer Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens zu berücksichtigen. Hierfür genügt es nicht, wenn der Minderjährige diese beiden geschützten Interessen im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens betreffend den Vollzug dieser Rückkehrentscheidung geltend machen kann, um gegebenenfalls eine Aussetzung deren Vollzugs zu erwirken (EuGH, Beschluss vom 15. Februar 2023 - C-484/22 - Rn. 28). Diesen sich allein auf das Rückführungsverfahren beziehenden Vorgaben hat die Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der ihr von Art. 288 Abs. 3 AEUV eingeräumten Entscheidungsfreiheit angemessen dadurch Rechnung getragen, dass sie über eine Anpassung von § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG und § 59 Abs. 1 AufenthG die Beachtung der betroffenen Belange bei Erlass der Rückkehrentscheidung in Gestalt der Abschiebungsandrohung und damit in einem frühen Stadium des Rückkehrverfahrens sichergestellt hat. Negative Voraussetzung einer Abschiebungsandrohung ist nach § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG und § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG jeweils, dass der Abschiebung weder das Kindeswohl noch familiäre Bindungen noch der Gesundheitszustand des Ausländers entgegenstehen.

27 cc) Einer aus der Richtlinie 2008/115/EG abgeleiteten Pflicht zur Berücksichtigung der in Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a und b RL 2008/115/EG aufgeführten Schutzgüter im Rahmen der Prüfung nationaler Abschiebungsverbote steht entgegen, dass der nationale Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG schon nicht vom Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115/EG erfasst ist (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 27. Mai 2021 - 1 C 6.20 - BVerwGE 172, 356 Rn. 21). Diese hat nicht zum Ziel, die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Aufenthalt von Ausländern insgesamt zu harmonisieren oder gar einen Mitgliedstaat zu verpflichten, einem Drittstaatsangehörigen, der ihrem Anwendungsbereich unterfällt, ein Aufenthaltsrecht zu gewähren, sondern regelt allein den Erlass und die Vollstreckung von Rückkehrentscheidungen. Die Art und Weise, in der Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht zuzuerkennen ist, und die Folgen, die sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aus dem illegalen Aufenthalt Drittstaatsangehöriger ergeben, gegenüber denen keine Entscheidung über die Rückführung in ein Drittland erlassen werden kann, sind nicht Gegenstand der Richtlinie 2008/115/EG. So kann denn auch keine Bestimmung dieser Richtlinie dahin ausgelegt werden, dass sie verlangen würde, dass ein Mitgliedstaat einem illegal in seinem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen einen Aufenthaltstitel gewährt. Die mehr oder weniger lange Dauer des Aufenthalts dieses Staatsangehörigen im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats ist insoweit unerheblich (EuGH, Urteile vom 6. Dezember 2011 - C‑329/11 [ECLI:​​EU:​​C:​​2011:​​807] - Rn. 28 f., vom 8. Mai 2018 - C-82/16 - Rn. 44 f., vom 24. Februar 2021 - C-673/19 [ECLI:​​EU:​​C:​​2021:​​127] - Rn. 43 ff., vom 22. November 2022 - C-69/21 - Rn. 84 ff. und vom 12. September 2024 - C-352/23 [ECLI:​​EU:​​C:​​2024:​​748] - Rn. 67 f. sowie Beschluss vom 26. September 2024 - C-143/24 [ECLI:​​EU:​​C:​​2024:​​810] - Rn. 17 ff.; BVerwG, Beschluss vom 22. Januar 2024 - 1 C 15.23 - InfAuslR 2024, 367 Rn. 4).

28 Die Feststellung des (Nicht-)Vorliegens der Voraussetzung eines ausländerrechtlichen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Juni 2008 - 10 C 43.07 - BVerwGE 131, 198 Rn. 15) ist, soweit sie nicht Gegenstand der ausländerbehördlichen Entscheidung über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG ist, gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG und § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG Voraussetzung für den Erlass der Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 3 Nr. 4 und Art. 6 RL 2008/115/EG. Sie verkörpert hingegen nicht selbst eine behördliche Entscheidung, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird, und stellt mithin keine Rückkehrentscheidung dar (zu dieser Definition vgl. Art. 3 Nr. 4 RL 2008/115/EG). Im Rahmen des nachgelagerten Abschiebungsverfahrens ist sie Teil der behördlichen und gegebenenfalls auch verwaltungsgerichtlichen Prüfung, ob die Rückkehrverpflichtung mit den Mitteln des unmittelbaren Zwangs vollstreckt werden darf.

29 dd) Erlangen die von Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a und b RL 2008/115/EG erfassten Belange erst nach Erlass der Rückkehrentscheidung Bedeutung, so ist die Abschiebung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG auszusetzen, sofern und solange sie rechtlich oder tatsächlich unmöglich ist (vgl. auch EuGH, Urteil vom 12. September 2024 - C-352/23 - Rn. 58 ff.). Die Richtlinie 2008/115/EG einschließlich ihres Art. 6 Abs. 4 begründet keine Verpflichtung zur Legalisierung des Aufenthalts illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (EuGH, Urteile vom 22. November 2022 - C-69/21 - Rn. 84 ff. und vom 12. September 2024 - C-352/23 - Rn. 67 f. und 79 sowie Beschluss vom 26. September 2024 - C-143/24 - Rn. 17 ff.).

30 ee) Innerhalb der Grenzen des § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG kann einem vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer gemäß § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist, und soll die Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG erteilt werden, wenn die Abschiebung seit 18 Monaten ausgesetzt ist. Erfüllt der Ausländer die Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 AufenthG oder eines anderen Aufenthaltsrechts nicht, so ist sein Aufenthalt bis zur freiwilligen Erfüllung oder zur Vollziehung der Ausreisepflicht zu dulden (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. September 2024 - 1 C 11.23 - juris Rn. 36).

31 ff) Der Senat war nicht verpflichtet, die Frage des Erfordernisses einer Berücksichtigung inlandsbezogener Belange im Sinne von Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a und b RL 2008/115/EG im Rahmen der Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Vorabentscheidung vorzulegen (zu den Kriterien vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2021 - C-561/19 [ECLI:​​EU:​​C:​​2021:​​799] -). Die Frage ist durch die vorstehend zitierte Rechtsprechung des Gerichtshofs hinreichend geklärt (acte éclairé).

32 2. Das angegriffene Urteil stellt sich auch nicht im Sinne des § 144 Abs. 4 VwGO aus anderen Gründen als richtig dar. Insbesondere lässt sich in Ermangelung tatsächlicher Feststellungen des Verwaltungsgerichts zu etwaigen zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG nicht beurteilen, ob die Kläger alsbald nach ihrer Rückkehr in ihr Herkunftsland in eine Art. 3 EMRK zuwiderlaufende Lage gerieten oder sie dort einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit ausgesetzt wären.

33 3. Da das Bundesverwaltungsgericht als Revisionsgericht daran gehindert ist, diese Feststellungen nachzuholen, ist das angefochtene Urteil insoweit aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen.